Verbraucher in Geschichte und Gegenwart: Wandel und Konfliktfelder in der Verbraucherpolitik. 9. NRW-Workshop Verbraucherforschung

Verbraucher in Geschichte und Gegenwart: Wandel und Konfliktfelder in der Verbraucherpolitik. 9. NRW-Workshop Verbraucherforschung

Organisatoren
Christian Bala, Kompetenzzentrum Verbraucherforschung NRW; Kevin Rick, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Philipps-Universität Marburg
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.05.2016 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Stina Barrenscheen, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Philipps-Universität Marburg

Verbraucherschutz und Verbraucherpolitik scheinen angesichts aktueller Debatten – beispielsweise um das Freihandelsabkommen TTIP – allgegenwärtig und hochgradig brisant. Dies aufgreifend, wurde auf dem 9. NRW-Workshop Verbraucherforschung des Kompetenzzentrums Verbraucherforschung NRW (KVF NRW), der in Kooperation mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Philipps-Universität Marburg in Düsseldorf stattfand, interdisziplinär über den Wandel, die Bedeutung und die Rolle von Verbraucherpolitik in Geschichte und Gegenwart diskutiert. Dabei zeigte sich im Verlauf der Tagung, dass nicht nur die ökonomische und politische Perspektive relevante Untersuchungsgebiete sind, um sich dem Verbraucher und der Verbraucherpolitik zu nähern. Während die bisherige Verbraucherforschung historische Betrachtungen weitestgehend unbeachtet ließ, sei auch die gegenwärtige Verbraucherpolitik sowie deren Debatten fast ausnahmslos im „Hier und Jetzt“ verankert, stellte WOLFGANG SCHULDZINSKI (Düsseldorf) in seinen einführenden Worten zum Auftakt des Workshops fest. Dabei sei der „verantwortungsvolle Verbraucher“ etwa, wie er aktuell in aller Munde ist, gar nichts Neues. Auch Debatten über ethisches Konsumverhalten gebe es schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Bereits der Hamburger Sülzeaufstand im Juni 1919 beispielsweise, so Schuldzinski, kann als erster Gammelfleischskandal des 20. Jahrhunderts gesehen werden.

Auch CHRISTIAN KLEINSCHMIDT (Marburg) verdeutlichte in seiner anschließenden Begrüßung die Fruchtbarkeit der historischen Perspektive auf die Gegenwart. Dazu gehöre nicht bloß das Gewordensein von Institutionen. Darüber hinaus könne man sich etwa die Frage stellen, ob wir dem Ziel eines „souveränen Konsumenten“ nähergekommen, ob Produkte etwa besser und sicherer geworden sind und welche Krisen und Skandale eigentlich dazu beigetragen haben, Verbraucherpolitik zu prägen und als Politikfeld zu etablieren. Vor diesem Hintergrund leitete Kleinschmidt die von den Veranstaltern, CHRISTIAN BALA (Düsseldorf) und KEVIN RICK (Marburg) formulierte Zielstellung des Workshops ab, der das Ziel hatte, sich der historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive auf Verbraucherpolitik, Verbraucherschutz und Verbraucherforschung in ihren Grenzen und Möglichkeiten zu nähern und ihrer Bedeutung zu herauszustellen.

Die Keynote-Lecture zum Auftakt hielt HARTMUT BERGHOFF (Göttingen), der die Konferenz fachlich mit dem Verbraucherschutz in der Weimarer Republik einleitete. Berghoff zeigte auf, dass der Verbraucherschutz während der Weimarer Republik eine große Aufwertung erfahren habe. Fortan habe der Staat ein Mindestmaß an Verbraucherschutz geboten, der Verbraucher bekam eine Stimme und wurde vom Objekt zum Subjekt. Die Einbeziehung des Verbrauchers in die noch junge Republik sei sogar bis zum Reichswirtschaftsrat diskutiert worden. Endverbraucher sollten Stimmen bekommen.

Zunächst wurde die Verbindung von Wissen und Konsum herausgestellt. Das erste Panel wurde von SEBASTIAN NESSEL (Graz) mit einem Versuch, die Konsumentenrolle in Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland aufzuzeigen, eröffnet. Hierzu arbeitete er vier zentrale Charakteristika heraus, die bei der Konzeption des „Konsumenten“ in modernen Gesellschaften eine zentrale Rolle spielen: Motivationen, Wissensstände, Rechte und Pflichten sowie gesellschaftliche Anforderungen. Nessel benutzte die Matrix, um anhand der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland deren Aussagepotenziale zu bestimmen, um ein historisch-theoretisch fundiertes Konsumentenverständnis zu bestimmen.

Neben dem Wissen über Konsumenten wurde anschließend die Kompetenz der Verbraucher versucht zu ermitteln. Über drei kulturhistorische Stufen von Verbraucherkompetenz versuchte DIRK HOHNSTRÄTER (Hildesheim) ein theoretisches Modell mit historischer Perspektive zu veranschaulichen. Mit der chronologischen Abfolge von „Wissen Was“, „Wissen Wo“ und „Wissen Wie“ zeigte Hohnsträter die Entwicklung von Wissensformen des Konsumenten auf: Während dem Verbraucher in der „Wissen Was“-Phase vor allem Wissen über Produkte vermittelt werde, käme es in der „Wissen Wo“-Phase zu einer Komplexitätsstufe, die dem Konsumenten Tests, Siegel und Marken näher brächte. Die „Wissen Wie“-Phase erfordere dagegen ein reflexives Wissen, dass durch Skepsis und Konsumentenansprüche geprägt sei, beispielsweise auch hinsichtlich moralischer Aspekte.

„Moralisierung“ war ebenso das Thema des zweiten Panels, in dem sich GUDRUN KÖNIG (Dortmund) zunächst mit der Konsumkompetenz und Geschlechterpolitik vor dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzte. Der Konsum gelte als Ergänzung der Hausarbeit und beeinflusse vor dem Ersten Weltkrieg somit vor allen Dingen das Frauenbild. Maßgeblichen Einfluss übe der Käuferbund aus, der die Erziehung der bürgerlichen Frau im Konsum ausübe. Die Verbindung von „Moral-Käufer-Geschlechterrollen“ sei hier von Bedeutung, so König, ebenso wie die Konsumkompetenz, die weit mehr sei als reine Kaufentscheidungen. Sie basiere auf Wissensformen und Entscheidungsweisen, die auch historisch mit dem Geschlechterregime verbunden sind.

Moralisches Verhalten von Konsumenten ist nicht ausschließlich als positive Wirkung zu verstehen. Die Entstehung von moralisiertem Verhalten, so der Konsens des Workshops, käme zumeist gerade aufgrund von negativen Entwicklungen auf und stelle einen „Protest“ der Konsumenten dar.

Über die negativen Formen von moralischem Konsumverhalten berichtete MARTIN GERTH (Kiel), der Konsumboykott als „moralisiertes Verbraucherverhalten“ bezeichnete. Für Gerth sei der Konsument ein einflussreicher Faktor in der Gesellschaftsordnung. Konsumpraktiken seien an moralische Motive geknüpft. Konsumverhalten sei von unterschiedlichen Bedingungen geprägt. Kommt es zu einer Moralisierung des Verbraucherverhaltens könne Boykott als Antwort auf Unzufriedenheit und Protest entstehen. Gerth unterteilte die Arten der Boykotte in organisatorische, in denen der Konsument auf ein Produkt bewusst verzichten solle, politisch-rechtliche Boykotte, die u.a. aus antisemitistischen Gründen vollzogen wrden und einer zeitlichen Dimension, die den Wandel von Moralisierungen verdeutliche.

Perfekt an die Diskussion um moralische Fragen an den Konsumenten schloss sich das dritte Panel, das sich auf Risiken des Verbraucherschutzes fokussierte. Das Panel sorgte bei den Teilnehmenden für den meisten Diskussionsbedarf, was auch in der Länge der Vorträge deutlich wurde. Der Faktor „Risiko“ scheint sowohl in der historischen, als auch in der gegenwärtigen Diskussion um Verbraucherschutz nicht abgeklungen zu sein.

Seit Krebserkrankungen in der Verbraucherdiskussion eine Rolle spielen, wie im Vortrag UWE SPIEKERMANNS (Göttingen) deutlich wurde, sei das Thema des Verbraucherrisikos jedenfalls allgegenwärtig, was auch in der Diskussion mit Verweis auf aktuelle Themen wie Glyphosat aufkam. In diesem Rahmen stand die historische Kritik an industrieller Nahrung im Fokus dieses Panels. Spiekermann versuchte in seinem Vortrag zu verdeutlichen, dass durch den Zuwachs an künstlichen Lebensmitteln und der gewerblichen Produktion in der Zwischenkriegszeit die Aufmerksamkeit der Konsumenten erhöht habe. Künstliche Kost gelte in der Gesellschaft als „Drohung“ von industriellen Unternehmen. Gegenströme, die u.a. Rohkost als Alternative zu gewerblich verarbeiteten Lebensmitteln bewarben, seien aufgekommen, ebenso wie Forderungen an Grenzwerte und Kontrollen der gewerblichen Lebensmittel zur Risikominimierung.

An die kritische Wahrnehmung der Gesellschaft gegenüber künstlichen Lebensmitteln anknüpfen, nahm HEIKO STOFF (Hannover) die „Volksgesundheit“ als verbrauchspolitisches Narrativ in den Blick. Bis weit in 1960er-Jahre existiere dieses Narrativ und auch in der Bundesrepublik scheinen Debatten um chemische Lebensmittel versus natürliche Lebensmittel einen hohen Stellenwert inne zu haben. Die Angst vor der Chemisierung und Technisierung des Lebens sei eine laufende Debatte gewesen. Auch hier seien öffentliche Stimmen laut geworden, welche die Nahrungsmittelchemie als Ursache für die „Krankheit des Jahrtausends: Krebs“ (Der Spiegel) verantwortlich machten.

Mit einem anderen, jedoch ergänzenden Blick öffnete CORNELIA REIHER (Berlin) mit ihrem Beitrag zu japanischen Verbraucherschutzorganisationen und sicheren Lebensmitteln die Risikodebatte auf transnationaler Ebene. Die japanische Verbraucherschutzbewegung sei im Vergleich zu Deutschland und den USA eher schwach ausgeprägt und habe ihren Einfluss vor allem auf lokaler Ebene. Reiher zeigte Interessenkonflikte zwischen Staat, Verbrauchern und Produzenten auf und wies auf Dynamiken hin, die einen Wandel zugunsten der Verbraucher unterstützen. Ein weiterer Fokus lag auf den Handlungsspielräumen japanischer Verbraucherschützer und ihrer transnationalen Vernetzung.

Im vierten und letzten Panel „Politik“ startete PAUL HÄHNEL (Siegen) mit dem Verbraucherschutz im Kaiserreich und ermöglichte somit einen Einblick in die Entstehung des Verbraucherschutzes in Deutschland bzw. genauer in unterschiedliche Kooperationen und Verflechtungen des Verbraucherschutzes im Deutschen Reich. Weiterhin stellte er die Probleme dieses Politikfeldes heraus, das sich zunehmend mit Politik und Interessenverbänden verbinde und somit eine Spezialisierung erfordere.

CLAUDIUS TORP (Kassel) und PETER ROTT (Kassel) stellten ihr Projekt als „Wagnis für Historiker“ dar, da es durch seinen historisch-rechtswissenschaftlichen Fokus sehr zeithistorisch arbeite. Die Transformation des Verbraucherschutzes seit den 1960er-Jahren, die geprägt war durch Krisen uns Skandale, stehe im Mittelpunkt der Untersuchung. Die Frage, die Torp und Rott versuchen zu erklären, fragt nach Determinanten der Verbraucherpolitik und des Verbraucherrechts. Mit Skandalen wie Contergan, BSE, der Finanzkrise 2008 und letztlich dem Abgasskandal Volkswagens, könne Interessen von Akteursgruppen, Reaktionen auf Krisen und eventuelle Pfadabhängigkeiten untersucht werden.

Torp unterstrich in der Diskussion, dass es bei der historischen-rechtswissenschaftlichen Betrachtung von Krisen in der Verbraucherpolitik keinesfalls um die Erklärung eines ganzen Politikfeldes ginge, sondern vielmehr um das Aufzeigen von Paradigmenwechseln. So könne u.a. der Aufstieg des Präventionsgedanken datiert und die Reaktionen auf Skandale ausgewertet werden. Die Reaktionszeiten, so Torps These, würden immer kürzer.

Kleinschmidt schloss die Diskussion, wie auch die Konferenz, mit einer Frage nach Erfahrungen und Lernprozessen. Was sind Lernprozesse der Vergangenheit, die es heute zu beachten gilt?

Alles in allem, so waren sich Referenten und Diskutanten einig, könne bereits im Kaiserreich von Verbraucherpolitik und -schutz gesprochen werden. Die Parallelen zu gegenwärtigen Diskussionen und Debatten seien dabei erstaunlich vielfältig. Die Relevanz der wissenschaftlichen Überlegungen über den Verbraucher sowie die historische Betrachtung von verbraucherpolitischen Themen und Debatten seien somit ein nicht nur hilfreiches, sondern besonders lehrreiches Vorgehen, das es in Zukunft stärker anzuwenden gelte.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Christian Kleinschmidt (Philipps-Universität Marburg)
Wolfgang Schuldzinski (Vorstand der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen)

Keynote
Hartmut Berghoff (Georg-August-Universität Göttingen)

I. Panel: Wissen
Moderation: Christian Kleinschmidt

Sebastian Nessel (Karl-Franzens-Universität Graz, Österreich) „Dispositionen, Wissen und gesellschaftliche Anforderungen als Bestandteile des „Konsumenten“: Dimensionen der Konsumentenrolle in Geschichte und Gegenwart“

Dirk Hohnsträter (Universität Hildesheim), „Wissen was, wissen wo, wissen wie: Drei kulturhistorische Stufen von Verbraucherkompetenz“

II. Panel: Moralisierung
Moderation: Wolfgang Schuldzinski

Gudrun M. König (Technische Universität Dortmund), „Bürger Kunde: Konsumkompetenz und Geschlechterpolitik vor dem Ersten Weltkrieg“

Martin Gerth (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel), „Wenn Verbraucher streiken: Ein Überblick zu Rahmenbedingungen moralisierten Verbraucherverhaltens am Beispiel des Konsumboykottes“

III. Panel: Risiken
Moderation: Christian Kleinschmidt

Uwe Spiekermann (Georg-August-Universität Göttingen), „Die Ambivalenz des Fortschritts: „Veredelungsindustrie“ und „Zivilisationsrisiken“ in der Zwischenkriegszeit“

Heiko Stoff (Medizinische Hochschule Hannover), „Puristen und Bagatellisierer: Über den Zusammenhang von Verbraucherpolitik und Volksgesundheit in Westdeutschland in den 1950er-Jahren“

Cornelia Reiher (Freie Universität Berlin), „(Ver-)Handlungsspielräume im Kampf um sichere Lebensmittel: Die transnationale Vernetzung japanischer Verbraucherschutzorganisationen“

IV. Panel: Politik
Moderation: Wolfgang Schuldzinski

Paul Hähnel (Universität Siegen), „Verbraucherschutz im Kaiserreich: Kooperation, Koordination und Verflechtungsprozesse“

Claudius Torp und Peter Rott (Universität Kassel), „Ereignishaftigkeit und Rechtsentwicklung in der Verbraucherpolitik: Eine historische und rechtswissenschaftliche Annäherung an den Umgang mit Krisen und Skandalen“

Schlussworte und Verabschiedung
Christian Kleinschmidt und Wolfgang Schuldzinski


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